Der Kollaps der Krypto-Börse FTX wirft fundamentale Fragen über die Zukunft von Digitalwährungen auf. Philipp Sandner, Professor und Leiter des Frankfurt School Blockchain Center, glaubt jedoch, dass FTX in Europa nicht möglich gewesen wäre.
Herr Sandner, was bedeutet der Untergang von FTX für die Krypto-Branche? Hat sie nicht ein systemisches Problem?
Philipp Sandner: Es war ein sehr hartes Jahr, wir haben neben FTX auch andere Implosionen wie Terra Luna und Celsius gesehen. Dass Unternehmen wie FTX in Schwierigkeiten geraten, hat System. Es betrifft vor allem «laute» Unternehmen, die viel Marketing betreiben, und das in Weltgegenden, die regulatorisch schwach sind. Im Verbund mit einem starken Zufluss an Anlegergeldern ist das eine toxische Mischung. Es gibt aber auch Gegenbeispiele, und zwar aus Europa. Das wird momentan gar nicht dargestellt, stattdessen gibt es Schreie nach mehr Regulierung. Aber die brauchen wir gar nicht. Die gibt es in der Schweiz schon seit Jahren, in Deutschland kam sie etwas später, auf EU-Ebene wird sie 2024 kommen.
Das heisst, ein Fall FTX wäre in Europa nicht passiert?
Der Schaden durch FTX blieb hier sehr beschränkt. In Deutschland gab es rund 21 000 geschädigte FTX-Nutzer bei 8 Millionen Besitzern von Kryptowährungen. Anleger sind hier nicht gezwungen, über wacklige Börsen zu gehen. Sie können den Krypto-Bereich über rechtlich gute und sichere Vehikel ansteuern. Deswegen ist der Schaden nicht in Europa eingetreten, was zeigt, dass saubere Regulierungen Geschäftsmodelle fördern, die keine solchen Katastrophen hervorbringen. Die Amerikaner müssen sich an der eigenen Nase nehmen, weil sie die Regulatorik zu spät angepackt haben. Das Geld ist durch regulatorische Lücken in unseriöse Plattformen wie Celsius, FTX oder BlockFi geflossen.
Auch die Stabilität von Handelsplätzen wie Binance ist infrage gestellt. Dieser ist viel grösser als FTX. Was geschieht, falls Binance untergeht?
Durch den Untergang von FTX und anderen wurde bereits viel Vertrauen zerstört. Wenn Binance auch noch in Probleme gerät, würde der Ruf nach den Regulatoren noch viel lauter. Jetzt herrscht Krypto-Winter, dabei dachten alle, dass der gegen Jahresende vorbei sein würde, doch dann kam FTX. Es herrscht viel Frust im Ökosystem. Sollte Binance fallen, würde sich der Krypto-Winter nochmals um ein, zwei Jahre verlängern. Wichtig ist, zu verstehen, dass die Technologien davon nicht betroffen sind. Bitcoin, Ethereum und auch Stablecoins haben so imposante Nutzerversprechen, die bekommen sie nicht einfach weg.
Aber gerade Stablecoins haben sich als alles andere als wertstabil erwiesen. Sie sind eine weitere Schwachstelle des Krypto-Systems.
Auf alle Fälle. Aber Stablecoins sind nicht gleich Stablecoins. Es gibt verschiedene Architekturen, vollgedeckte und algorithmische Stablecoins. Die Projekte, die nicht funktioniert haben, waren algorithmische. Die mathematisch verbauten Methoden konnten die Wertstabilität langfristig nicht sicherstellen. Vollgedeckte Stablecoins wie Circle, mit Abstrichen auch Tether, funktionieren gut. Sie werden in Libanon als Zahlungsmittel eingesetzt, weil das Bankensystem dort nicht funktioniert. Die Regulatorik in Europa erlaubt Stablecoins nur, wenn sie Volldeckung aufweisen. So kann Geld in Zukunft funktionieren.
In Europa haben sich Stablecoins bisher nicht durchgesetzt.
Beim Dollar sind sie bereits in Anwendung. Beim Euro nicht, weil Stablecoins wegen des Libra-Projekts, das Facebook lanciert hatte, politisch stigmatisiert sind. In der europäischen Politik, in Brüssel, will sich keiner mit Stablecoins die Finger verbrennen. Das ist ein kapitaler Fehler, denn für den US-Dollar sieht man schon heute, was man mit einem richtig konstruierten Stablecoin alles machen kann.
Wo sehen Sie denn die grössten Schwachstellen? Mit Blick auf die zahlreichen Hackerangriffe und Diebstähle – wie bei FTX – ist das System sehr anfällig.
Es gibt viele Schwachstellen, es herrscht Wilder Westen – sofern die Regulierung wie in Europa nicht gut entwickelt ist. Netzwerksicherheit etwa ist vor allem bei Ethereum und Bitcoin gegeben, bei anderen Protokollen kann man theoretisch das ganze Netzwerk angreifen. Es gibt Hackerangriffe auf die Wallet-Besitzer, auf die Intermediäre, auf die Handelsplätze. Es gibt aber auch Angriffe auf die Preisbildung, so dass manche plötzlich zu viel oder zu wenig bezahlen. In den letzten Jahrzehnten gab es aber auch in der traditionellen Bankenwelt Probleme. Diese wurden ausgemerzt, deswegen ist der Finanzmarkt heute so hart reguliert. Die Regulatoren zwingen die Banken, die Risiken zu managen und Kundengelder separat vom Geschäft zu halten. Die Zwänge der Finanzregulatorik müssen auf den Krypto-Bereich übertragen werden. Dann gibt es genauso viele oder wenige Katastrophen wie in der traditionellen Finanzwelt. So etwas wie FTX oder Wirecard wird immer passieren, solche vorsätzliche kriminelle Energie kann man nicht stoppen.
Sie bemühen viel die Regulierung. Dabei dürften, gemäss den Prinzipien einer dezentral organisierten Blockchain, externe Regeln und der Staat keine Rolle spielen. Ändert sich das, weil es ohne einfach nicht funktioniert?
Es gibt jene, die alles dezentral machen wollen, dann kommt der Staat mit seinen Regulierungsanstrengungen und fordert das Gegenteil. Da entsteht der Eindruck, das sei nicht kombinierbar. Ich sehe das nicht so. Das Ziel der dezentralen Welt ist tatsächlich weniger Staat, jeder kann alles selbst machen. Dafür muss man technisch versiert sein. Man kann Bitcoins kaufen und sie auf einem USB-Stick speichern. Dafür brauche ich keine Bank, keine Börse und keinen Staat. Gleichzeitig bewegen sich 98 Prozent der Bevölkerung in der regulierten Welt. Keiner will, dass alle mit USB-Sticks und Bitcoins hantieren, die würden von Betrügern ausgenommen. Die meisten sind bei regulierten Krypto-Börsen gut aufgehoben. Die dezentrale Welt ist die innovative Werkbank. Der regulierte Sektor pickt sich ab und zu eine Idee heraus und macht sie gross.
Der Bitcoin-Kurs ist sehr schwankungsanfällig. Gibt es einen rationalen Preis, oder kommt der immer spekulativ zustande?
Einen fairen Preis zu ermitteln, ist sehr schwer. Letztlich gibt der Markt den Preis vor, inklusive aller Einflussfaktoren wie überzogener Bewertungen aus anderen Märkten. Zudem spielen kurzfristige Faktoren wie regulatorische Eingriffe mit. Das wird zusammengenommen, und ein Preis entsteht. Deswegen ist die Volatilität so gross. Alle versuchen zu antizipieren, ob der Preis jetzt herauf- oder heruntergehen sollte, und das in einem relativ kleinen Markt.
Kryptowährungen haben also keinen inneren Wert.
Man kann sich einem Wert annähern, indem man sich fragt: Wie viele Nutzer gibt es heute, wie viele wird es in den nächsten Jahren geben? Wie wird das Netzwerk von Netzwerkeffekten profitieren? Heute gibt es weltweit 200 Millionen Bitcoin- und Ether-Besitzer, nächstes Jahr werden es 250 Millionen sein. Auch das Stock-to-Flow-Modell gibt einen Hinweis. Es zeigt, wie knapp ein Gut ist. Dabei nimmt man den gegenwärtigen Bestand an Bitcoins und setzt ihn ins Verhältnis zu den jährlich neu erzeugten. Man erhält eine Art Härtegrad: Gold hat demnach einen Härtegrad von 61, Bitcoin von 57. Rationale Menschen müssten sich langfristig an jenem System orientieren, bei dem der Härtegrad am grössten ist. In der Vergangenheit waren das etwa Gold, Immobilien oder die Deutsche Mark. Aufgrund der Inflation müsste es langfristig zu einer Verschiebung kommen, theoretisch hin zum Bitcoin. Ich bleibe aber skeptisch. Die kurzfristigen Effekte sind so gross, dass sie alle Modelle kaputtmachen.
Auch Zentralbanken haben Projekte lanciert, um digitales Geld zu schöpfen. Was bringt das den Menschen konkret?
Die Menschen möchten digitales Geld haben, sonst gäbe es kein Apple Pay auf dem Smartphone. Der direkte Nutzen ist, dass man seinen Geldbeutel zu Hause lassen kann, weil man alles mit dem iPhone bezahlen kann. Der Kundennutzen ist schon da, vor allem für jüngere Leute. Lösungen wie Apple Pay funktionieren schon sehr gut. Da kann man sich fragen, ob die Zentralbanken etwas Besseres liefern können, um den digitalen Euro anzupreisen. Ich bezweifle das. Ich sehe derzeit nicht, wie die EZB ab 2026 eine bessere Lösung anbieten könnte als Apple oder Google heute zusammen mit den Kreditkartenfirmen.
Eine staatliche digitale Währung ist doch mehr als eine Bezahllösung.
Natürlich gibt es politische Argumente wie die europäische Souveränität oder eine eigene europäische Bezahlinfrastruktur, das ergibt alles Sinn. Aber das ist mir als Kunde, der täglich mit dem iPhone bezahlt, eigentlich egal. Die Zentralbanken haben das Richtige im Sinn, aber es wird unglaublich schwer, das den Kunden schmackhaft zu machen.
Digitales Zentralbankgeld – im Gegensatz zu Krypto – wäre staatlich unterlegt und damit sicher. Das ist das Killerargument für die Währung.
In der Vergangenheit hätte ich Ihnen zugestimmt. Aber in Deutschland haben wir 10 Prozent Inflation. Im Baltikum mehr als 20 Prozent. Da muss man sich fragen, wie viel davon langfristig noch unterlegt ist. Wenn ich morgens einkaufen gehe und mit Apple Pay bezahle, muss ich auch keine Angst haben, dass die Sparkasse mir den Euro irgendwo wegnimmt. Die Zentralbanken argumentieren auch mit dem Gegenparteienrisiko. Bei den Mini-Beträgen, mit denen ich hantiere, ist dieses Risiko kaum vorhanden. Das verfängt bei mir als Kunde nicht.
Im Vergleich zum regulären Kapitalmarkt ist Krypto eine Nische. Dennoch stösst es in der Bevölkerung auf grosses Interesse. Weshalb?
Es ist zum einen Mystik: Man versteht es nicht wirklich, es gibt keinen Erfinder, es gibt viele schräge Geschichten. Zum anderen wird das Thema von den Medien massiv verstärkt. Gleichgültig, ob Negatives oder Positives berichtet wird. Das generiert viel Aufmerksamkeit und hat sich über die Jahre hochgeschaukelt. In Deutschland besitzen 10 Prozent der Bevölkerung oder 8 Millionen Menschen Kryptowährungen, in den USA 40 Millionen. Viele Leute sind davon noch unberührt. Aber das Interesse ist riesengross. Die Inflation und die politische Unsicherheit machen die Leute nervös. Dass die Inflationsprognosen der Zentralbanken komplett falsch lagen, verschärft die Skepsis. Die Menschen beginnen, das System zu hinterfragen, sie fragen sich, was Geld eigentlich ist. Sie sehen, dass die gegenwärtige finanzielle Situation langfristig möglicherweise nicht tragfähig ist.